Sifan Hassan hat mit einem sensationellen Sieg in einem der sicherlich dramatischsten Marathon-Rennen der olympischen Geschichte ein Kapitel Sport-Historie geschrieben. Die aus Äthiopien stammende Holländerin gewann das Rennen nach einer Spurt-Entscheidung in der olympischen Rekordzeit von 2:22:55 Stunden vor der äthiopischen Weltrekordlerin Tigst Assefa (2:22:58) und der Kenianerin Helen Obiri (2:23:10). Nur 800 Meter vor dem Ziel hatten noch vier Läuferinnen um den Olympiasieg gekämpft. Kenias Titelverteidigerin Peres Jepchirchir wurde in dem Hitzerennen mit Schattentemperaturen von bis zu 27 Grad Celsius 15. in 2:26:51.
Auf der hügeligen, schweren Strecke war Domenika Mayer (LG Telis Finanz Regensburg) als 29. in 2:30:14 die beste deutsche Läuferin. Laura Hottenrott (PSV Grün-Weiß Kassel) lief auf Platz 38 in 2:31:19. Melat Kejeta (Laufteam Kassel), die Olympia-Sechste von Sapporo 2021, gab das Rennen nach gut 18 Kilometern auf.
Sifan Hassan hat als erste Frau in der Geschichte bei Olympischen Spielen Medaillen in allen drei Langstrecken gewonnen. Über 5.000 und 10.000 m war sie zuvor jeweils Dritte. Nur ein anderer Läufer hat bei Olympia zuvor in diesen drei Disziplinen Medaillen gewonnen: 1952 lief der legendäre Tscheche Emil Zatopek sogar zu drei Goldmedaillen, was sicherlich einmalig bleiben wird. „Was Sifan Hassan hier in Paris geleistet hat, ist schwer in Worte zu fassen. Überhaupt während einer Karriere olympische Medaillen über 5.000 und 10.000 Meter sowie im Marathon zu gewinnen, ist schon sehr außergewöhnlich - aber sie hat dies hier in Paris (in einer Woche) geschafft. Ich glaube, das wird keine andere Läuferin mehr erreichen können in der Zukunft“, sagte die frühere britische Marathon-Weltrekordlerin Paula Radcliffe, die das Rennen für die BBC kommentierte.
Nach einem verhaltenen Anfang mit einer 10-km-Zwischenzeit von 34:32 Minuten setzte sich bereits zwischen Kilometer 12 und 13 eine Gruppe vom Feld ab, in der alle großen Favoritinnen liefen. Nach dem ersten von zwei langen Anstiegen, lief die Australierin Jessica Stenson in 73:22 Minuten über die Halbmarathon-Marke. Unmittelbar hinter ihr folgte eine Gruppe von 19 Athletinnen. Domenika Mayer passierte diesen Punkt auf Platz 45 in 74:48, Laura Hottenrott hatte in der Bergauf-Passage einige Plätze gutgemacht und folgte auf Platz 54 in 75:13.
Kurz vor dem zweiten, langen und am Ende steilen Anstieg machten dann die Äthiopierinnen Tigst Assefa, die im vergangenen Jahr den Berlin-Marathon in der Weltrekordzeit von 2:11:53 gewonnen hatte, und Amane Beriso Shankule, die 2023 den WM-Titel gewonnen hatte, Tempo. Dadurch fiel die große Spitzengruppe auseinander. Bei Kilometer 29, am Ende des steilen Anstieges, lagen neben den beiden Äthiopierinnen nur noch Kenias Titelverteidigerin Peres Jepchirchir und ihre Landsfrau Sharon Lokedi an der Spitze. Doch Helen Obiri und Sifan Hassan konnten auf dem anschließenden Bergab-Stück wie unter anderen auch die Japanerin Yuka Suzuki die Lücke wieder schließen. Knapp zehn Kilometer vor dem Ziel fiel eine erste große Favoritin aus der Gruppe: Überraschend war es Peres Jepchirchir, die bald darauf so weit zurück lag, dass sie keine Chance mehr auf eine Medaille hatte.
Gut sechs Kilometer vor dem Ziel waren es wieder Assefa und Shankule, die das Tempo anzogen. Daraufhin reduzierte sich die Gruppe auf fünf Läuferinnen. Lokedi, Obiri und Hassan liefen hinter den Äthiopierinnen. Das Quintett war auch zwei Kilometer vor dem Ziel noch zusammen - ein solches olympisches Marathon-Finale gab es noch nie. Nach 40,5 km fiel Shankule zurück, 600 Meter vor dem Ziel dann Lokedi und schließlich auch die Boston-Marathon-Siegerin Obiri. Tigst Assefa zog dann den Spurt an, doch sie wurde Sifan Hassan nicht los. Die Holländerin schob sich in einer Kurve innen vorbei, rempelte dabei Assefa leicht und stürmte zum größten Sieg ihrer Karriere.
„Als ich ins Ziel lief, war es ein Moment der Erleichterung, es war unglaublich. Ich habe nie so etwas erlebt. Ich dachte, ich bin Olympiasiegerin - aber wie ist das möglich“, sagte Sifan Hassan, die nur eineinhalb Tage zuvor das 10.000-m-Finale gelaufen war. Vor drei Jahren bei Olympia in Tokio hatte sie bereits Sportgeschichte geschrieben. Damals siegte sie über 5.000 sowie 10.000 m und gewann über 1.500 m noch eine Bronzemedaille. Aber dieses einmalige Medaillen-Trio hat sie jetzt selbst in Paris noch übertrumpft.
„Während des Rennens habe ich bereut, die 5.000 und 10.000 Meter gelaufen zu sein. Ich sagte mir, ich würde mich jetzt gut fühlen. So aber war es von Beginn bis zum Ende extrem hart“, sagte Sifan Hassan, die als 15-Jährige aus Äthiopien nach Holland geflüchtet war und dort dann mit dem Laufsport begann. „Nach 20 Kilometern habe ich mich besser gefühlt - dann wollte ich gewinnen. Aber die anderen waren alle frisch. Ich habe immer darauf gewartet, dass sie einbrechen, aber sie waren stark“, sagte Sifan Hassan, die vor knapp einem Jahr den Chicago-Marathon in der Europarekordzeit von 2:13:44 Stunden gewonnen hatte und damit die zweitschnellste Läuferin aller Zeiten ist. Nach dieser Leistung bei Olympia ist auch nicht mehr ausgeschlossen, dass Sifan Hassan versuchen könnte, als erste Frau eine Marathon-Zeit von unter 2:10:00 Stunden zu erreichen.
Angesichts der natürlich enorm starken Konkurrenz hielten sich Domenika Mayer und Laura Hottenrott recht gut bei ihrer Olympia-Premiere. Beide holten in der zweiten Hälfte des Rennens noch auf, aber letztlich waren die Platzierungen nicht so stark wie jene der deutschen Läuferinnen vor drei Jahren bei Olympia (6. Melat Kejeta, 18. Deborah Schönborn, 31. Katharina Steinruck). „Ich konnte nicht so viel aufholen wie ich gehofft hatte. Am Ende waren in meinem Bereich alle gleich schnell. Und wir sind dann so ins Ziel gerollt. Daher ist die Platzierung nicht so wie erwartet“, sagte Domenika Mayer. „Die Berge waren eine Herausforderung. Aber egal wie hart es war, ich wollte zufrieden ins Ziel laufen bei Olympia - deswegen habe ich auch gejubelt.“
„Ich bin mein eigenes Tempo gelaufen und habe mich dann ab Kilometer 15 bergauf nach vorne gearbeitet“, sagte Laura Hottenrott, die auch als Bergläuferin aktiv ist. „Ich bin dankbar, dass ich hier bei den Olympischen Spielen laufen konnte vor so einer tollen Kulisse. Ich habe viel gelernt für die Zukunft.“
Melat Kejeta gab das Rennen am ersten der zwei langen Anstiege nach gut 18 km auf. Vor drei Jahren beim Olympia-Marathon noch hervorragende Sechste, war sie in Paris offenbar nicht in Topform. Im Höhentraining in Addis Abeba hatte sie zeitweilig in der Olympia-Vorbereitung nicht wie gewohnt trainieren können. „Es hat viel geregnet, so dass ich dann nach St. Moritz gereist bin“, hatte Melat Kejeta vor den Spielen erklärt. In Normalform hätte sie in Paris vielleicht einen Platz unter den Top 15 erreichen können.
Ergebnisse:
1. Sifan Hassan NED 2:22:55
2. Tigst Assefa ETH 2:22:58
3. Helen Obiri KEN 2:23:10
4. Sharon Lokedi KEN 2:23:14
5. Amane Beriso Shankule ETH 2:23:57
6. Yuka Suzuki JPN 2:24:02
7. Delvine Meringor ROU 2:24:56
8. Stella Chesang UGA 2:26:01
9. Lonah Salpeter ISR 2:26:08
10. Eunice Chumba BRN 2:26:10
11. Fatima Gardadi MAR 2:26:30
12. Dakotah Lindwurm USA 2:26:44
13. Jessica Stenson AUS 2:26:45
14. Sardana Trofimova KGZ 2:26:47
15. Peres Jepchirchir KEN 2:26:51
16. Fabienne Schlumpf SUI 2:28:10
29. Domenika Mayer GER 2:30:14
38. Laura Hottenrott GER 2:31:19
Melat Kejeta GER DNF
Text: Jörg Wenig / Race News Service
Fotos: World Athletics/Christel Saneh, World Athletics/Mattia Ozbot, www.photorun.net, Team Deutschland/Picture Alliance